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Das Sehen entfaltet das Ungesehene

Stephan Berg
Man hatte es fast vergessen, wie das ist: vor einem Bild zu stehen, das keiner Theorie folgt und kein Programm erfüllt, das nichts weiß und will, als sich selbst dabei zusehen, wie sich aus seiner Malspur ein fragiler Farbraum aufbaut, der wie ein köstliches und kostbares Geschenk momenthaft leuchtend aufblüht und im nächsten Augenblick schon wieder verlöschen kann. Dann sieht man die Bilder Susi Juvans und es fällt einem wieder ein, wie das ist: Wenn die Farben sich gegenseitig erzeugen und kein Pinselstrich schon im vornherein weiß, was auf ihn folgen wird. Wenn Bilder nicht hergestellt werden, sondern langsam wachsen und dabei nie sicher sagen können, wohin die Reise führt.
»Grundsätzlich stehe ich immer im Offenen« sagt die Malerin und »Ich bin auf das Sehen selber angewiesen«. Das ist kein Programm, sondern ein Bekenntnis zu einer existentiellen Vorgehensweise. Nichts schützt die Malerin vor dem immer präsentem Scheitern, kein konzeptuelles Schlupfloch entlastet sie vor der elementaren Verhaftung an das Sehen, an das Begehren, das jedes Sehen auszeichnet und die malerische Neu-Erfindung des Gesehenen im Bild. So war das schon immer, seit Susi Juvan malt und immer auch war der Gegenstand, auf den jedes Sehen, jedes Begehren zielt, dabei der zentrale in sich widersprüchlich vibrierende künstlerische Angelpunkt, weil sich in ihm das Sehen und das Malen sowohl miteinander verknüpft, wie es gleichzeitig kategorial voneinander geschieden wird.
In ihrer ausbalanciertesten Form erleben wir dieses Oszillieren zwischen der Welt, die, aktiviert durch den Blick der Künstlerin in das Bild hineindrängt und einer Malerei, die reine Erfindung und Selbstfindung ist, in der dreißigteiligen Gouache »P.A.R.I.S.« aus dem Jahr 1990. Dreißigmal nimmt dieses gemalte Tagebuch einen gegenständlichen Anlass in den Blick und lässt ihn durch die Malhand auf dem Papier Gestalt annehmen, erschafft rotschimmernde chinesische Lampions, abenddämmrige Dachlandschaften und Brückendurchblicke. Und dreißigmal verweigert sich dabei die Malerei mimetischer Nachschöpfung. Mehr als nur bloßer Malanlass, ist der Gegenstand doch nie in der Lage das Bild zu dominieren. Stets arbeitet sich der Pinsel frei, folgt seiner eigenen Spur in diaphane, schimmernde Farbwolken hinein, in denen sich die Malerei im Prozess des Malens selbst erschafft.
Die Idee einer Hierarchisierung der verschiedenen Bildteile ist dieser Malerei dabei ebenso fremd, wie die etwaige Vorspiegelung der abgeschlossenen Ganzheit dieses Ensembles. Jedes Bild in diesem vielfältig schimmernden Kosmos ist mit dem unbedingten Anspruch gemalt, in sich selbst die Lösung der in ihm verhandelten Aufgabe zu sein. Kein einziges verlässt sich darauf, durch den Kontext der anderen gestützt oder mitgetragen zu werden. Dreissig Bildmonaden künden von der irreversiblen Zersplitterung des Blickes. Und doch gelingt jedem einzelnen Fragment für sich genommen seine eigene kontingente Wahrheit und Gesamtheit. In den letzten zwei Jahren ist die Gegenstandsverpflichtung, die vor allem das Frühwerk der Malerin kennzeichnet, deutlich in den Hintergrund getreten. Susi Juvan  selbst spricht davon, dass sie heute in der Lage sei, »den Gegenstand immer mehr zu verlassen«, ohne ihn freilich je gänzlich aus dem Bildraum ausschließen zu wollen. Er bleibt wichtig, nun aber zunehmend nur noch als Impuls für einen ihm weitgehend entkoppelten Malakt. Paralell dazu lässt sich eine Veränderung des Malvorgangs beobachten. Gegenüber den früheren Arbeiten, in denen ein, wenn auch sehr freies, Bildgerüst den Rahmen bot, in dem sich die in sich selbst versponnene Malspur bewegte, strebt die Künstlerin in jüngster Zeit ein grundsätzliches »Loslassen« an, das die Malerei ohne Vorstrukturierung aus dem »Bild selbst entwickelt«. Das ist kein Kurswechsel, sondern ein weiterer, ebenso riskanter, wie konsequenter Schritt in den freien, ungesicherten Raum, in dem sich diese Malerei im Grunde seit jeher bewegt.
Von der écriture automatique des Unterbewussten, wie auch vom Autonomiebegriff der essentiellen Farbmalerei, hält sich dieser Ansatz jeweils gleichweit entfernt. Ihm geht es weder darum, im Malvorgang die eigenen Ich-Tiefen zu spiegeln, noch will er der Farbe zu hermetischer, weltausschließender Eigenwirklichkeit verhelfen.
Stattdessen sind diese Bilder der Versuch, das Sehen selbst zu malen und daran zu lernen, »dass wir in einem absolut haltlosen Kontext stehen, in dem jede notwendige Setzung eine Form der Vorläufigkeit darstellt«. In einem ganz grundsätzlichen Sinn bewegt sich diese Kunst so zwischen allen Fronten, verkündet weder Verbundenheit mit der Welt, noch Abkehr von ihr, sondern kann ihr gefährdetes Projekt immer nur an dem Punkt formulieren, an dem sich Ich und Welt im Augen-Blick trifft, um sich gleich darauf wieder zu dissoziieren.
Am schönsten begreift man das an den Gouachen, die Susi Juvan dieses Jahr gemalt hat.»Saint Sulpice« beispielsweise, in dem die Farben sich zusammenziehen zu kompakten blauen Rundlingen und dann wieder in schmerzlich intensiven Gelb- und Rot-Tönen dynamisch fließen. Ein langgestrecktes Querformat, in dem alles Farbe, Licht und Bewegung ist und jeder Pinselstrich nur sich selbst kennt und sich selbst meint und doch auf den nächsten vorausweist und schließlich auch davon kündet, wie das, was nun ganz Malerei ist, einmal Welt war und Erinnerung an die Falten eines Kleides auf einer Reklametafel in der Metrostation »Saint Sulpice« vielleicht. Oder dieses ebenfalls stark gelängte düsterrote Querformat, das aus seinem dunklen linken Rand drei Kannenformen herauswachsen lässt, die in ein flirrend helles ,unbestimmtes Feld auslaufen. Was für eine Delikatesse der Malerei, und was für eine Selbstverständlichkeit, mit der es Susi Juvan gelingt, diese Gefäße so zu malen, daß sie ganz sie selbst sind und gleichzeitig doch auch im Malakt gewonnene bedeutungsfreie Formationen, die nur das Bild vorantreiben, hinein in den hell leuchtenden Bereich am rechten Bildrand. In diesen Bildern wird das wahr, was allen Bildern als Sehnsucht eigen ist: Das Sehen verwandelt sich in eine Malerei, in der sich das Ungesehene entfaltet.
Freiburg, im November 1993