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Der zerbrochene Spiegel

Zu den neuen Bilder von Susi Juvan
Hans-Joachim Müller
Das letzte Bild ist schon gemalt. Und das allerletzte auch. Und immer neue Bilder werden gemalt.
Wenn es nach den gelegentlichen Selbstverabschiedungen der Kunstgeschichte gegangen wäre, hätte die Dramatik der Bilder-Erzeugung längst erstarrt sein müssen. Aber kein finaler Malakt hat den Strom der Bilder stoppen können. Allen Stillstandsgeboten zum Trotz scheinen sie nicht aufhören zu können, sich immerfort nachzufolgen und sich einzuholen und sich vorauszueilen.
Weil nämlich die Maler gar nicht anders können, wie Robert Walser beobachtet hat. Weil es da den gleichgültigen, den unbeweglichen Gegenstand gebe. Und hier die durcheinanderliegenden Farben. Weil zwischen beiden die zitternde, fassende, unfassliche Hand sei und das begehrende, sich bezwingende, mühsam sich haltende Auge. Und dies das Schicksal der Maler sei: wiederkehrender Kampf. Kampf, sich immer erneuernd. Susi Juvan erlebt den Beginn des Malens als ein Erwachen der Augen. Als eine Art Induktion der Netzhaut, die die Reize, die sie einfängt, in den Reizvorrat leitet, den sie eingefangen hat. Da also der gleichgültige, der unbewegliche Gegenstand. Und hier das begehrende, sich bezwingende, mühsam sich haltende Auge. Das ist Anfang und Antrieb des Malens. Das Ausgangs-»Setting« der bildnerischen Genese, in die Selbstbegegnung und Selbstverlust, Begier und Scheu, Erfahrung und Erkenntnisinteresse in immer neuen Verhältnissen gemischt sind.
Bevor die zitternde, fassende, unfassliche Hand zwischen lockender Gegenständlichkeit und lüsternem Auge vermittelt, ist die malerische Urszene gänzlich erfüllt vom Sehen. Von einem Sehen, das suchendes Sehen ist, das die Dinge streift, das nicht scharf einstellt auf sie, das nicht scheidet und nicht entscheidet. Am Anfang wisse sie nie etwas, sagt Susi Juvan.
Am Anfang, hat Paul Klee beschrieben, sei die Verwirrung, das Chaos. Chaos, das ihn an eine »mütterliche Hand« denken läßt. Aus ihr falle der Maler ins Leere, aufs weisse Blatt, wo er unter die Herrschaft linearer Ordnungen gerate. Für Susi Juvans neuere Arbeiten ist die Leere
nicht mehr bloss Durchgangsstation auf dem Weg der Wandlung chaotischer Imaginationen in erzählerische Strukturen. Zielte das Bild in einer Frühphase des Werks noch auf Geschlossenheit, Ganzheit, Komplexität, mithin auf Bedeutung, Verständigung, auf Suggestion, so scheint es sich jetzt eingerichtet zu haben in der Ausgesetztheit von Chaos und »weissem Blatt«. Und das entstehende Bild entsteht nicht mehr aus der symbolischen Vermittlung von Welt, sondern aus der Doppelgestalt eines ansichtenlosen Sehens, das vom Weltzusammenhang nur Fragmente und Dynamik kennt und anerkennt.
Die Bildzeichen sind freier geworden, selbständiger. Mimetisch sind sie kaum noch. Oder doch nur soviel mimetisch, dass kenntlich wird, wie wenig ihnen an der Abbildhaftigkeit gelegen ist. Was noch an Gegenständlichkeit identifizierbar sein mag - Möbelstücke, Landschaftsausschnitte, Gerätschaften, Körperteile -,ist nichts anderes als die Spur, die der sinnliche Impuls hinterlassen hat. Zeichnerisches kommt dabei nie vor. Zeichnen erschrecke sie, sagt Susi Juvan. Erschreckein ihrer definitorischen Endgültigkeit. Die Zeichenhand tut so, als wisse sie schon alles. Die Malhand gesteht, dass sie nichts weiss. Die Malhand lässt sich überraschen. Sie lässt die Dinge sich erschliessen, sie bemächtigt sich ihrer nicht, sie ist Aufmerksamkeit, nicht Gewissheit. Sie begleitet das Auge bei seiner Suche. Das Auge sucht zum Beispiel den eigenen Körper ab, bleibt an einem Knie hängen oder an den Händen unter dem Wasserhahn, blickt von einer Raumecke in die andere, haftet an einem Stück Heizkörper, an einem Stück Teppich, an einem Stück Vorhang, wagt sich durchs Fenster ins freie, schweift im Freien umher, entdeckt die Stadt, fällt in sie, tastet ihre Silhouette ab, zieht sich zurück und beginnt sein Nomadendasein von neuem.
Die Strecke, die das Auge zurücklegt, ist völlig kontingent, vorsatzlos, planlos. Auf der Strecke wird eine Fülle von Haltepunkten erreicht, und an den Haltepunkten geschehen immer neue Aufbrüche. Zur Ruhe kommt der vagierende Sehprozess eigentlich nie. Virtuell wären die aus einzelnen Bildsegmenten gebauten Bildkomplexe fortsetzbar. Die Energie scheint nicht verbraucht. Sie fliesst ein in sinnliche Materie. Und je mehr sinnliche Materie sich häuft, desto notwendiger bedarf sie der farbräumlichen Organisation. Dann ordnet die Malerin die Beutezüge des Auges. Stellt zueinander und gegeneinander, stiftet Kontakte, bringt ins Gleichgewicht und akzentuiert verbindende koloristische Partien. Unter den Bildbausteinen herrscht keinerlei Hirarchie. Es gibt keinen Schlussstein, es gibt nur lauter Schlusssteine. Wo immer man einen entfernte, stürzte die ganze bildnerische Struktur zusammen. Jeder ist in der Bildanlage gleich bedeutsam, hat den gleichen Rang. Das bildnerische Ganze verdankt sich abgestimmten Entscheidungen, die jeweils auf ein Malerlebnis reagieren, das Züge einer autonomen, denkenden Struktur trägt.
Vor den ausgeglichenen Bildteilen, vor dem ausgewogenen Bild lernt das Auge des Betrachters schliesslich, durch das Auge der Malerin zu sehen: Es kann an jeder Bildstelle beginnen und jede Bildstelle mit jeder kurzschliessen. Es lässt sich treiben in der Schwerelosigkeit simultaner Fügungen.
Im ersten Werkabschnitt vertraute das Bild noch auf seine unverkennbare Spiegelfunktion. Das malende Ich erfuhr von sich in der malerischen Selbstinszenierung. Im Spiegel der Bilder erstand so etwas wie weltkonstituierende Subjektivität. Inzwischen ist der Spiegel zerbrochen und gibt keine Inbilder und keine Traumbilder und keine Weltbilder mehr wieder. Das malende sehende Ich teilt mit den Dingen nicht mehr den gleichen Massstab. Es bemisst sich zu den Dingen aus wechselnden Einstellungen und Perspektiven. Wobei der zersplitterte Spiegel der Bilder, ihr fragmentiertes Gesehensein nicht auf einen modernen Kohärenzverlust anspielt, dem die sichtbare Welt als sichtbare Ordnung unheimlich geworden ist. Susi Juvans neue Bilder bezeugen keine Verfallenheit mit der Welt, keine Fremdheit in ihr. Aber umgekehrt auch keine Geneigtheit und keine Vertrautheit. Denn nicht den Dingen wollen sie zum Erscheinen verhelfen, sondern allein dem Sehen.
Der zerbrochene Spiegel spiegelt das Auge, noch bevor es Verhältnisse zur Dingwelt begründen kann. Es spiegelt ein Sehen, das den Dingen nicht gegenüber ist, das in den Dingen ist, das mitten unter ihnen ist, unter malerischen Beweggründen. Unter gleichgültigen, unbeweglichen Gegenständen also und durcheinanderliegenden Farben. Und es spiegelt die zitternde, fassende, unfassliche Hand und das begehrende, sich bezwingende, mühsam sich haltende Auge.
Freiburg, Dezember 1991