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·P·A·R·I·S

Klaus Theweleit
Ob Susi Juvan gern ins Kino geht, weiss ich nicht. Aber sie hat – was nicht viele Maler haben – ein filmisches Auge; zumindest ergeben Auge und Hand zusammen bei ihr ein Montagegerät. Mittel des Schnitts ist allerdings keine Schere, sondern die Farbe.
Ein kinohaftes Auge ist, wenn ich den Ausführungen von Gilles Deleuze, dessen Kinobuch ich gerade lese, folge, nicht das Auge eines einzelnen Menschen oder verschiedener einzelner Menschen, sondern so etwas wie das Auge der Materie, die sich selber anschaut: die Welt, wie wir sie aus der Montage von Kinobilder kennen, ist für ein einzelnes menschliches Auge (seine Orts- und Zeitbeschränkung) nicht gegeben. Da aber das meiste, was wir von der Welt und den Dingen wissen (was wir gesehen haben), die Gestalt von Kinobildern hatte, ist es nur richtig und genau zu sagen: ein heutiges »objektives« Auge kann keiner Einzelperson zugehören, es kann sich nur konstruieren aus der Verbindung mit den Bildmontagen, in denen ein Bild jeweils ein anderes anschaut, dasjenige, das ihm folgt und das, das ihm vorausgegangen ist. Deleuze spricht so von der Sicht eines nichtmenschlichen Auges, eines Auges, das in den Dingen wäre. Jedes Bild, jeder Gegenstand, befindet sich dadurch in einer  universellen Veränderlichkeit. »Die universelle Veränderlichkeit, die universelle Wechselwirkung (Modulation) ist bereits das, was Cézanne die Welt vor dem Menschen nannte. »Dämmerung unserer selbst«, »irisierendes Chaos«, »Jungfräulichkeit der Welt«. Dass wir sie zu konstruieren haben, ist nicht verwunderlich, denn sie ist für ein Auge gegeben, das wir nicht haben.«
Wer hat die Bilder von Susi Juvans »·P·A·R·I·S« angesehen? Ein Augenpaar? Nein. Paris 1990 ist ein Bild aus dreißig Augenpaaren, Augenpaaren, die nicht alle ohne weiteres die der Malerin sein müssen. 6x5 macht 30, und hätte 30 Photographien machen können, macht es aber nicht. Susi Juvan liebt »Bilderreihen« ... »einen Bildweg von unabsehbarem Ende« ... eine »Geschichte« solle das ergeben (nicht »Film«) sagt sie in einem früheren Interview ... da gab es dieses Bild noch nicht. Ich sehe es eher zu Geschichte führend oder zu »Gesichten«, als zu Geschichten. Geschichte von Blicken auf eine Stadt.
In einem Photoalbum werden die Bilder segmentiert und auf Distanz zueinander gebracht, während sie in der Filmmontage in ihrer Aufeinanderfolge näher zueinanderrücken, aufeinander Einfluß nehmen, sich zu einem imaginären Gesamtbild verbinden wollen, das – als einzelnes – selber nicht zu sehen, aber doch da ist. Juvans Bild ist, außer dass es ein Bild aus dreißig ist, auch ein solches imaginäres von Paris, Reise um eine Stadt in dreißig Blicken, in dreißig Tagen. Jeden Abend aufschreiben, was man gehört, was man gesehen, was man gedacht hat - das wäre ein Tagebuch.
Ein Arzt, Freud, setzt sich spät abends hin und schreibt auf, was er tagsüber gehört hat von Patienten (»Krankengeschichten«). Ein Philosoph, Deleuze, setzt sich spät abends hin und schreibt auf, was er gesehen und gehört hat, die Stunden vorher, die er im Kino war. Nicht »Filmkritiken«, sondern Aufzeichnungen zu einer womöglichen Systematisierung von Blickweisen, wie man sie in der Konstruktion von Kinobildern entdecken kann. Später werden Bücher daraus; theoretische Schriften zur Daseinsweise von Kranken, theoretische Schriften zur Daseinsweise von Bildern. Das Ohr, das Auge des Aufzeichners, re/konstruiert in seinem Zimmer das Gehörte, das Gesehene: seine Besonderheiten, seinen Realitätsgrad, seine Ausdrucksstärke. Auch Susi Juvan malt nicht an einem abendlichen Tagebuch dessen, was sie am Tag hörte und sah.
Was habe ich gehört? ... Was habe ich gesehen? ... Welches Rot hatte der Lampion bei dem Chinesen, bei dem ich heute gegessen habe. War es ein Lampion? War es eine Lampe? Was für ein Material? Gab es ein Ornament daneben auf der Wand? Wie sah es aus? Wie eine Hummerschere? Wie ein Stück Strauch auf einer japanischen Tuschzeichnung? Wie waren die Falten des Kleids auf der Reklame von »Biba«, die ich in der Metro sah, Station Saint Sulpice ... die Veränderung des Lichts in der Spalte zwischen zwei Gebäuden um 6 Uhr 30 ... wenn ich dies alles nicht mehr weiß und in Farbe auf einem Bild sagen kann, war ich nicht da ... gibt es das alles nicht. Eine Realitätsversicherung?
Ja, es war dieses Rot ... dieses graublaugrün am Brückenbogen von ... nicht irgendein Brückenbogen ... es ist die Brücke von sowieso ... bei sowieso ... die Malerin kennt den Namen, den Ort, die Tageszeit ... wir sind nicht mit ihr gegangen., kennen den einzelnen Ort, den Namen, die Tageszeit nicht ... ich sehe aber, einmal darauf aufmerksam geworden, die Versammlung all solcher, einzelner Blicke, die sich ihrer Genauigkeit versichern wollen, die sich ihrer Realität versichern wollen, die sich, an den Ort, wo Papier, Pinsel, Farben stehen, zurückgekommen, sich dessen versichern wollen, dass es sie nicht nur bloß gab, sondern dass es genaue Blicke waren,– genaue emotionale Registratur von Vereinzeltem, Unzusammenhängendem, das die Struktur unseres Alltagsdaseins ausmacht: die Struktur eines irgendwie verbundenen Unzusammenhängenden, die wir andauernd leugnen, indem wir das, was wir gesehen/gedacht/gefühlt haben übersetzen in eine andere Sprache, in andere Formeln, in andere Farben sogar (soweit wir die Dinge nicht überhaupt entfärben in unseren Wahrnehmungsspeichern).
Susi Juvans Bilder wollen diese Übersetzung nicht. Sie wollen nicht einmal, dass ein einziger Blick (der Blick, -Konsruktionsblick des Malers) das einzelne gemalte Bild – die »Komposition« – dominieren. Es sollen mehrere Blicke in einem Bild sein, Blick auf einen ganzen Gegenstand wie Blick auf eins seiner Details im selben Bild; Blickmischungen, Mischungen der »Sujets«, die Gebäude von Paris (große Gegenstände mit großem Namen und jede Menge Kunstverarbeitungsgeschichte am Halsband wie der Hund seine Marke), zusammenmontiert mit Einzelheiten eines ungesehenen Paris, mit Stoffmustern, Tapetenausschnitten, einer Vorstadtsilhouette, einem Kindergesicht neben der Guckkastenöffnung einer Marionettenbude. Die Rundung einer Teekanne tritt in Beziehung zur Kuppel eines nicht ganz unbekannten Gebäudes, der Brückenbogen von ... einhunderttausendmal gemalt, mit einem nie gemalten Fensterbogen eines anderen Winkels der Stadt, es ist gleichzeitig Morgen, Mittag, Abend und Nacht im selben Bild, eine Mischung der Tageszeiten und ihres je verschiedenen Lichts auf Dächern, auf einem Gitter, auf einer Jalousie, auf einer Baustelle. Mehrere Sorten Seinewasser wälzen sich hindurch, mit Lichtreflexen, ohne Lichtreflexe, das Alltagswasser wie das »impressionistische«, die Reihung wie die Montage haben ein Ziel: sie sind unterwegs zu einer Enthierarchisierung der Dinge. Eine Verfügung sehr wohl, man kann auch sagen, einen Zugang, aber nicht Bemächtigung. So werden die Gegenstände farblich verfügbar gemacht: dass sie ins selbe Bild hineingehen und sich dort nichts tun. Es unterbleibt die Übersetzung in Bedeutungssysteme, Empfindungssysteme, in die systematisierbaren und systematisch angewandten Verarbeitungsweisen von Welt, die unsere tägliche Abstraktions- oder auch Abführarbeit ist. Unsere sogenannten Sehgewohnheiten sind so etwas wie Abführpillen für die aufgenommenen Wirklichkeiten. Hier sind nich Abführ-, hier sind Zuführpillen, 5x6, 30 Stück in einem Bild, sie wollen alle einzeln angesehen werden und können alle einzeln angesehen werden ... jeden Ausschnitt gibt es »für sich« irgendwo in der realen Stadt ... photographisch nachweisbar ... Photographie plus Malerfarben plus filmische Montage ... es gibt sie alle aber auch nur auf diesem Bild ... in dieser Wirklichkeitsverdichtung ... in dieser montierten Wirklichkeitskonstruktion.
Diese Kuppeln, Kirchen, Brückenbögen haben wir eigentlich in der alltäglichen Bemächtigungstasche (photographisch, touristisch, malgeschichtlich, kinogeschichtlich, sie gehören uns zu wie die Bauklötze dem Kind, wir werfen sie in unserem Kopf über- und durcheinander wie das Godzillamonster auf der Leinwand mit einem Handstreich alle bekannten Skylines dieser Welt); hier re-miniaturisiert, sind sie in anderer Weise anschaubar und konkret. Diese nuancistische, detailverliebte Malerei ist genau das, was sie auf den ersten und auch zweiten oder dritten Blick nicht zu sein scheint: sie ist äusserst realistisch, realitätsbesessen und aufzeichnungsgenau. »In der Liebe ... Detail ist alles«, sagt eine schöne Zeile von William Carlos Williams. Mit den Bildern wird es so ähnlich sein.
Susi Juvan malt eine Art Verliebtheit in die Details ihrer Gegenstände; sie macht Gegenstände aus Details. Und Gegenstände bestehen aus Details. Erfunden ist auf diesen Bildern gar nichts; alles war mal vorm Auge. Die Erfindung besteht darin, beinah sybiotisch am Detail zu bleiben. So sehen wir das, was wir andauernd ansehen ohne es zu sehen, als das uns ganz Fremde, als die Schönheit des Fremden, deren Aufnahme das Alltagsauge verweigert. Unter »Realismus« versteht man gemeinhin etwas »Aufdeckendes« - das idiotische Adjektiv »schonungslos« ist dem Realismus verzwillingt worden und er wird es nicht wieder los. Juvans Realismus ist ein schonender, von mir aus sogar ein verklärender Realismus – wobei das »ver« - das Klären nicht verhindert, im Gegenteil. Farben sind Verklärungen, und selbstverständlich sind Malerfarben den Farben des sog. Realen überlegen, wozu müßte man sonst malen und malen wollen. Vom Lila, das sich zwischen van Gogh und Nolde auf Bilder entfaltet, kann sich jede Irisblume ihr Teil abkucken, wie die Klematis von der Bläue der Matisse und Monet. Unser gewöhnlicher Abstraktionsrealismus entfärbt demgegenüber die Welt. In den Malerfarben liegt die Möglichkeit, den Dingen die Farben, die sie zwar haben, die wir aber weg-sehen, für unser Auge zurückzugeben. Susi Juvan nutzt so ziemlich alle Farben, unserem Auge eine Farbe »Paris« zurechtzumontieren; jede der Farbnuancen und Mischungen ist dabei offenbar so im »Recht« gegenüber dem jeweiligen Ausschnitt und seinem Gegenstand, daß sie - das ist eins der Wunder dieses Bildes – nicht übereinander herfallen, sich nicht ausschließen, sich nicht bekämpfen: es ist der seltene und seltsame Fall, dass »alle« Farben in ein - und demselben Bilde »gehn«. Nicht nur durchgehn, sondern gutgehn. Paris, wenn es sich dies Bild ansieht, könnte einverstanden sein mit dem Farbenkleid, in das die Malerin es gesteckt hat 1990, nach all den Farben, in die es gesteckt worden ist von fast allen Malern der Moderne.
In einigen Kritiken zu Juvans Bilder lese ich von (wohlwollend beanstandeten) Mängeln ihres Umgangs mit der räumlichen Perspektive, – als ob es nicht eine Errungenschaft der Moderne gewesen wäre, die Perspektive des Raums und der Linie durch eine Perspektivität der Farbe zu ersetzen. Die Gliederung des Bildraums wich einer Emotionalisierung der Bildfläche. Die Impressionisten und Expressionisten unternehmen diese in großen Farbemotionsexplosionen. In Susi Juvans Bild »·P·A·R·I·S« verstecken sich die Gefühle eher, haben sich die Bescheidenheit des Vereinzelten, Blicke aus einer emotiven Metro, die die Stadt durchquert, die den Blick hier und da aus den Schächten steigen läßt, damit er sich verliebe in ein Detail, damit er sich aufladen lasse von einer Einzelheit, an deren Farbe er sich noch wärmen kann zu Hause bei der Wiederbelebung seiner selbst und des gesehenen Dings in einer gegenseitigen Versicherung, daß es sie beide gegeben hat und gibt tatsächlich in diesem Moment. Das blickende Auge zählt sich den Einzelheiten selber zu, ist nicht das »Gegenüber« des angesehenen Gegenstands, der sich einverleibt. Den Gegenständen bekommt das. Sie entfalten ihre Wärme und berühren sich untereinander. Es ist wieder der Text eines Filmemachers, in dem ich (rein zufällig ... und die Zufälle ergeben »Muster«) eine Art Begriff für das finde, was ich in Susi Juvans Bild sehe. Er schreibt (über die Bilder, die er selbst zu machen versucht): »Dem komplexen Bild entspringt aus seiner beziehungsreichen inneren Organisation ein Vielfaches an Kontaktflächen zu anderen ebenso erzeugten Bildern. Die Montage bekommt einen osmotischen Charakter. Sie bringt nicht die einzelnen Einstellungen auf den Schnittpunkt, sondern schiebt inhaltliche Felder ineinander.«*
Exakt so stoßen sich die Einzelbilder in Juvans Bild nicht von einander ab an ihren Schnittstellen, sondern schieben sich ineinander: osmotische Montage; man sieht ein solches Bild, ein paar Wochen später fliegt ein Begriff dazu aus einem Buch, das ein Freund geschickt hat – die Produzierenden sind nicht getrennt voneinander und auch nicht unbedingt »allein« – wenn ihnen solche Korrespondenz genügt.
Zufälle, Einzelheiten, Muster. Vielleicht könnte es auch heißen, »Im Leben, Detail ist alles«, beim Malen wie beim Decken des Abendbrottisches. »·P·A·R·I·S« könnte als eine kleine Schule dienen für die Wahrnehmung dieser Art Ebenbürtigkeit der Ausschnitte, der Farben und der Perspektiven. Eine Art Gleichmut vor den Dingen, eine erlernte Unerschrockenheit, die sich übrigens nicht dadurch herstellt, dass jeder gemalte Gegenstand in das gleiche Ausschnittsformat gebracht ist, sondern darin, daß der Grad der entgegengebrachten Aufmerksamkeit die gleiche Intensität jeweils hält. Keiner der dreißig Ausschnitte »transportiert« einen Gedanken. Es ist Aufzeichnen von Gesehenem, seine Belebung an anderem Ort, seine Emotionalisierung durch Farben und seine anschließende Montage mit weiteren Aufnahme-Blicken –; malerisch/filmisch, nicht »Geschichten«, sondern Momente, Gedicht-Bilder statt erzählender, – zu sehen bei Juvan auch schon in der Reihung »Teich - oder die Vertreibung aus dem Paradies I-V«, in der Bild II wie eine Ausschnittvergrößerung von I und IV wie eine Prismatisierung eines (unsichtbaren) Details von III erscheinen.
»Nein, nein, vorstellen kann man sich nichts auf der Welt, nicht das Geringste. Es ist alles aus so vielen einzigen Einzelheiten zusammengesetzt, die sich nicht absehen lassen. Im Einbilden geht man über sie weg und merkt nicht, dass sie fehlen, schnell wie man ist. Die Wirklichkeiten aber sind langsam und unbeschreiblich ausführlich.« Unbeschreiblich farbig sind sie auch. Und lassen sich nicht »absehen« oder »einbilden«, (wie Rilke sagt, dessen schöne Sätze zu den »Einzelheiten« ich hier zum wiederholten Mal zitiere) so doch ansehen und abbilden, auch wenn der zu einem Bild verwandelte Gegenstand seine »Kenntlichkeit« dem flüchtigen Blick und auch einem einzigen Blick nicht hergibt. Die Arbeit des Kenntlichmachens bleibt dem Betrachter überlassen, – die der Aufzeichnung und Belebung hat die Malerin gemacht.
* Heinz Emigholz in »Krieg der Augen, Kreuz der Sinne«, Kassel 1991