Die umrisslosen Dinge

Zur Malerei von Susi Juvan
Hans-Joachim Müller
Als Modell, zur Malsitzung einbestellt, es wäre zum Verzweifeln. Die ewigen Skrupel, das Zögern und Bedenken, Ändern und Verwerfen! Dieses nicht weiter machen Können und nicht aufhören Können! Selbst die kluge Madame Juliette Récamier, die viel verstand von den Umständen und Umständlichkeiten des Kunstmachens, wäre im Atelier der Malerin Susi Juvan ein wenig ungeduldig geworden und hätte sich nach Wochen wohl diskret gewundert über den ausbleibenden Bildfortschritt. Damals bei François Gérard, dem die famose Salonière Anfang des 19. Jahrhunderts Porträt saß, ging alles viel zügiger, entschlossener, speditiver. Da stand ein illustrer Geschäftsmann an der Staffelei, der die schöne Frau mit Noblesse zu geben wusste. Man traf sich zwei, drei Mal, und war doch bald zufrieden mit der schmeichelnden Eleganz der Linien und dem feinen Faltenwurf, aus dem der Maler den Körper modellierte.
Als Susi Juvan das berühmte Porträt im Pariser Musée Carnavalet wieder einmal sah, hat sie noch nicht gewusst, was ihr bevorstand, die Umstände und Umständlichkeiten kaum geahnt, die ihr die Dame aus napoleonischer Fernzeit bereiten wird. Sie weiß nie, was es ist, was sie in der Bilderwelt von einem Bild zum anderen treibt. Nie weiß sie genau, was wieder sein wird, wenn die Bilder die Regie übernehmen. Es gibt in diesem Werk nicht das vorsätzliche Handeln, keine Strategie, die von der Idee über den Plan zur Ausführung führte. So würde man auch keine Begründung finden für den Entschluss, das Récamier-Porträt als Beweggrund eigener Bildarbeit zu wählen. Enthielte nicht schon das Wort »wählen« viel zu viel Aktion? Vielleicht war es die klassizistische Anmut, die irgendwann später, lange nach der Begegnung mit dem Bild, den malerischen Impuls ausgelöst hat. Vielleicht war es nur die gelbe Decke, die der Standesmaler seinem prominenten Gast umgelegt hat. Oder ein anderes, kaum
erinnertes, kaum bewusstes Bilddetail war schuld daran, dass der Museumsbesuch Folgen hatte und ein aufgeschlagener Bildband monatelang in Sichtweite der Staffelei liegen sollte.
Susi Juvan kann zu ihren Motiven nicht viel sagen. Nur soviel, dass es ihr nicht um Nachschaffen zu tun ist, nicht um Nachempfinden, dass es auch nicht darum gehen kann, sich mit dem Museumsbild zu messen und schon gar in Konkurrenz zu ihm zu treten. Es sind verborgene Antriebe, und sie sollen verborgen bleiben. Klarheit der Zeichen herrscht nie auf diesen Bildern, und nie lassen sich den Bildgegenständen irgendwelche Bildbotschaften entnehmen. Dass die Madame Récamier wie von fernher aufscheint, heißt nicht, dass es aktuellen Anlass gäbe, noch einmal über Person und Auftritt nachzudenken. Die intellektuelle und gesellschaftliche Gegenspielerin des selbst ernannten Kaisers behält ihre museale Ruhe, wird nicht neu zur Figur der Auseinandersetzung oder der Feier, der Bewunderung oder der Kritik. Susi Juvans Werk kreist nicht um Inhalte, so wie man von anderen Werken sagen könnte, das ist es, wofür sie sich interessieren, was sie angeht, was sie mitzuteilen haben. »Mir gefällt der Gedanke«, sagt die Malerin, »mein Motiv Bild werden zu lassen, es zurückzuführen, wo es noch vielgestaltig war, begrifflich noch nicht erfasst und offene Seinsmöglichkeiten hatte. Das wünsche ich meinem Bild.«
Man sollte der Verführung der Gegenstände nicht zu rasch erliegen. Ihre vermeintliche Identifizierbarkeit erweist sich aufs Ganze gesehen ungleich weniger bedeutsam als die Art und Weise, in der die Gegenstände unentscheidbar erscheinen und verschwinden. Es ist dieser labile Aggregatzustand, den die Malerin als »offene Seinsmöglichkeit« beschreibt. Erst wenn nichts mehr festgelegt, markiert, definiert ist, wenn sich aller motivische Vorwurf in Malstoff verwandelt hat, ist das Bild bei sich angekommen. Malen ist hier nicht zielgerichtete, zielbestimmte Handlung, nicht Ausführung, wie der Architekt seine Entwurfszeichnung realisiert. Malen ist bei Susi Juvan selbstreflexive Malarbeit auf der Malbaustelle, auf der man lange nur undeutlich ahnt, was da entstehen wird. Und es sind abenteuerliche Prozesse, über denen sich die Erfahrung der Bildwerdung bis zu einem Punkt höchster Dichte staut. Die Vorlagenfrau aus dem Museum hat sich viel gefallen lassen müssen, bis die Malerin endlich mit ihr oder mit sich oder doch mit dem Bild zufrieden war. Wieder und wieder hat sie sie umdrapiert, hat sie sie zugemalt und wieder frei gemalt, hat sie die Farbigkeit getilgt und die Farben verfeinert, Partien abgedeckt und aufgedeckt, hat Nebel aufziehen lassen und die Wolken wieder weggeschoben. Wenn man die Arbeitsfotografien, die Susi Juvan von jedem Bildzustand angefertigt hat, zu einer Art Protokollfilm zusammenschneiden würde, wäre es wie bei einer Séance. Und gebannt würde man zusehen, wie die Malerin und ihr Medium zusammen finden.
Es gibt durchaus rationale Momente in der Bildgenese, es gibt kontrollierenden Abstand, Entscheidungen aus schierer Malerinnenvernunft. Aber es gibt eben auch das andere, das Absinken im Bild, die Selbstzurücknahme im sinnlichen Geschehen. Und ein Bild ist für Susi Juvan erst dann fertig, erst dann bei sich angekommen, wenn die Hürden genommen, die Widerstände überwunden, wenn die abstoßenden Energien vernetzt sind, und die eine malerische Kraftquelle mit der anderen zusammen fließt: »Das gegenständliche Vorbild und das verinnerlichte Bildempfinden sind zwei gegenläufige Kräfte, die miteinander ins Spiel kommen, Spannung erzeugen und den Widerstand bieten, den ich brauche, um in eine Handlung zu kommen. Ich will mich selbst aus der Bahn werfen, um in Neuland zu fallen, um auf verborgenen Wegen ein Bild zu finden, dass vollkommen unvorhersehbar war.«
Räume, Interieurs, Landschaften, antike Architekturen, Figurenbilder; die Paris-Bilder; die »Vitrinen« mit den Chinoiserien, deren ornamentale Muster wie Sternzeichen am Himmel auf den Projektionsflächen der monumentalen Leinwände aufleuchten; die Studien zum »Malprozess des Porträts« (»Vor Augen«); die Serie nach den berühmten Aufnahmen des südafrikanischen Fotografen David Goldblatt: Was ist es, was diese offensichtlich inkonsistente Bildwelt im Innersten zusammenhält? Man kann die Bilder der Susi Juvan nicht abarbeiten, wie man ein Sudoku löst. Eher ist es so, dass man in sie gerät, wie man sich in einer Affaire verfängt. Unversehens, schon ist man drin, hat kaum was getan dazu, irrt umher im unzugänglichen, ausweglosen Layout, wo nirgendwo ein verlässliches Richtungsschild zum Bildziel führt, aber das Erlebnis des Malens noch immer abstrahlt, virulent bleibt. Begegnung mit diesen Bildern heißt in Wahrheit Teilhabe am malerischen Stoffwechsel der Ideen, Impulse und Impressionen, wie ihn die Künstlerin bekennt: als immer wieder faszinierenden Prozess ungesteuerter und steuerbarer Bildentscheidungen.
Und es wird, je mehr man sich auf diese Bilder einlässt, rasch deutlich, dass es nicht ausreicht, mit geschärften Erkenntnisinstrumenten den Vorhang vor den Bühnen einfach aufreißen zu wollen. Die Figuren dort scheinen sich eben doch dem Blick zu entziehen. Als folgten sie einer geheimen Drift, so weichen sie aus in den Bühnenhintergrund, wo das, was wir sehen und wie wir es sehen, sehr weit weg spielt. So weit weg, dass es den Blicken verwehrt ist, sich der Dinge zu bemächtigen, wie es unser Subjektstolz gebietet. Was diese Bilder also eigentlich bestimmt, ist ihre erkenntniskritische Eleganz, mit der sie die Gewaltakte des Sehens unterlaufen, ihr untergründiger Zweifel an jener Wahrnehmungssicherheit, die Wahrheit nur in »So-ist-es«-Sätzen kennt. Hier flackern eher die Vielleicht-ist-es-so-Sätze. Vielleicht gewöhnen sich ja die Augen, wenn sie nur ein bisschen Geduld haben, an die umrisslosen Dinge und lernen von ihnen, dass die scharfen Umrisse, an denen das scharfe Sehen die Dinge dingfest machen will, nichts weniger als Fiktionen sind, reine Bewusstseinsleistungen unter Ausschluss all dessen, was dem Bewusstsein nicht bewusst ist.
Es mag irritieren, wenn sich die Dinge nicht deutlich genug zeigen, wenn an der Madame Récamier gerade das verborgen bleibt, was das Porträt doch ausmacht, der mögliche Blick in die Augen, ins unwiederholbare Antlitz. Man reibt sich die Augen, lastet die Unschärfe eigenem Unvermögen an, einer Trübung, einer jähen Unterversorgung der Sinne. Dass man irgendetwas nicht auf Anhieb versteht, nur auf langen Umwegen zu Sinn und Bedeutung kommt, dass es uns allemal an Einsicht gebricht, das mag ja noch hingehen. Aber dass die Schwierigkeiten schon bei der Ansicht beginnen, das muss ein wenig verstören. Und doch: Was irritiert, ist zugleich, was fasziniert. Faszinierend, wie das Verschwimmen der Bildgegenstände, ihre Transsubstantiation in malerischen Stoff und malerische Struktur die Wahrnehmung auf sich selber richtet.
So gesehen handeln Susi Juvans Bilder von nichts anderem als vom inhaltlosen Sehen. Sie polemisieren nicht gegen die Dominanz der Dinge und ihre Sehansprüche. Dass es die Dinge gibt, indem es sie zu sehen gibt, dass das Dingliche am Ding das ist, was gesehen werden will, bestreiten diese Bilder gar nicht. Worum es ihnen zu tun ist, lässt sich mit gebührender Vorsicht so sagen: Wie kann man Sehen malen, ohne dass sich Sehen vergegenständlicht? Wie kann man das Wunder des Sehens malen, ohne dass sich das Malen am Gegenstand abarbeiten müsste – ohne dass es ihn zerstören, dekonstruieren, in der heftigen Gebärde oder rauschhaften Geste leugnen, von ihm abstrahieren müsste?
Und wenn man den Horizont von Jahrzehnten überblickt, der sich über dieses Werk spannt, dann setzt sich die Summe nicht aus lauter vermeintlichen Einzelposten zusammen, sondern besteht ungleich deutlicher noch in der Konsistenz der bildnerischen Dinge, in der Partnerschaft des versunkenen und des prüfenden Blicks, in der Unmittelbarkeit der malerischen Handlung, einer traumwachen, wachträumenden Handlung. Nie wüsste man zu sagen, wer die Bildführung besitzt, die Malerin, die sich dem Malen überlässt, oder die Malerin, die zusieht, wie sie sich dem Malen überlässt. Und wenn sich eine Bilderfindung eine Zeitlang durchzusetzen versteht, dann hat das auch nichts mit Wiederholung zu tun. Es ist viel eher der Versuch auszukundschaften, wie lange dieser Paarlauf von Intuition und Kontrolle dauern kann, bis er im idiomatischen Gebrauch erstarrt. Dann bricht Susi Juvan ab und überlässt sich wieder einem anderen Bild, einem anderen Weg zum Bild. Und dann beginnt das Abenteuer von Neuem, das Erlebnis des Einfallens und Steuerns, des Fühlens und Denkens. Und wenn das Bild nicht mehr ausgedacht aussehe, sagt Susi Juvan, dann könnte es fertig sein. »Alles was man weiß, muss man sich aus der Hand schlagen, um eine andere Dimension zu aktivieren, die nur Bild sein will. Es heißt aber auch, sich ständig gegen die Angst zu bewegen.« Und endlich, als die Madame Récamier nicht mehr ausgedacht aussah, ist sie für fertig erklärt worden. Und »fertig« ist nichts anderes als ein sehr feiner, sehr durchsichtiger Vorhang, in den sich der Kampf zwischen der Malbereitschaft und den Malzweifeln, diese malerische Bewegung gegen die Angst wie eine Signatur eingeschrieben hat.