Vitrine. Ansichten eines unfesten Raums

Zur Malerei von Susi Juvan
Sibylle Omlin
Der Schriftsteller Marcel Proust hat unter dem Stichwort »épaisseurs d’arts«¹) den Reichtum von verschiedenen künstlerischen Schichten beschworen. Er bevorzugte beispielsweise das Festhalten von Kunstwerken mittels literarischer Beschreibung, Druckgraphik und Photographie, was in den Augen Prousts – anders als bei der Betrachtung in natura – ermöglicht, verschiedene Wahrnehmungsschichten übereinander zu lagern und zu vervielfältigen.
In Prousts »Suche nach der verlorenen Zeit« wird der Schriftsteller Bergotte über den Artikel eines Kunstkritikers auf das Bild von Vermeer »Die Ansicht von Delft« aufmerksam gemacht. Obwohl er das Bild sehr gut zu kennen meint, entdeckt Bergotte dank der Schilderung des Kritikers ein kleines gelbes gemaltes Stück Mauer, an das der Schriftsteller sich nicht mehr erinnert, »das so gut gemalt ist, dass es allein für sich betrachtet einem kostbaren chinesischen Kunstwerk gleichkommt, von einer Schönheit, die sich selbst genüge.«²)
Bergotte besucht kurze Zeit später selber die Vermeer-Ausstellung in Paris, um die »Ansicht von Delft« zu betrachten und sich von den Schilderungen des Kunstkritikers zu vergewissern:
»Endlich stand er vor dem Vermeer, den er strahlender in Erinnerung hatte, noch verschiedener von allem, was er sonst kannte, auf dem er aber, dank dem Artikel des Kritikers, zum ersten Mal kleine blau gekleidete Figürchen erkannte, ferner feststellte, dass der Sand rosa war, und endlich auch die kostbare Materie des ganz kleinen gelben Mauerstücks entdeckte. (…) So hätte ich schreiben sollen, sagte er sich. Meine letzten Bücher sind zu trocken, ich hätte mehrere Farbschichten übereinander legen müssen, meine Sprache in sich kostbar machen sollen, wie es dieses kleine gelbe Mauerstück ist.«³)
Ich nehme diese Bemerkungen zu Vermeer aus dem Umfeld von Proust zum Anlass, um in die Kostbarkeit von Susi Juvans Malerei einzuführen. In Anbetracht ihrer grossformatigen Bilder mit dem Titel »Vitrine« scheint es reizvoll, etwas davon auf sie zu übersetzen, umso mehr es bei Susi Juvans Malerei ebenfalls um diese »épaisseurs d’arts« geht, die sie in der Malerei kostbar zu machen sucht, wie das kleine gelbe Mauerstück von Vermeer.
Bezeichnenderweise spielen in Susi Juvans fünfteiliger Bildserie »Vitrine« chinesische Keramiken eine gewisse Rolle. Die Künstlerin hatte bei einem Besuch im Pariser Museum Guimet chinesisches Porzellan in einer raumfüllenden Vitrine entdeckt. Die Schalen waren auf verschiedenen Ebenen angeordnet, so erzählt mir die Künstlerin, sie waren weiss und zeigten blauen Malereien, komplexe Landschafts- und Genredarstellungen sowie Stilleben – die klassischen Motive der Malerei. Die Fotos mit dem Porzellan, die Susi Juvan im Museum gemacht hatte, lagen bei meinem Besuch in ihrem Atelier wie Erinnerungstücke herum: abgegriffen, mit Farbe befleckt. Die Komplexität dieses Sujets – hervorgerufen durch chinesische Malerei, weisses Porzellan, spiegelnde Vitrinenwände, Lichtverhältnisse – war Susi Juvan Anlass für ihre Bildserie »Vitrine«. Indem sie ihren Bildgegenstand zu Arbeitszwecken fotografiert hat, sind am Sujet verschiedene Schichten von medialer Wahrnehmung beteiligt. Die Fotografien haben die Beleuchtung im Museum als gelblichen Farbüberzug festgehalten; in der Glaswand spiegelten sich die Lichtquellen des Raums als helle Flecken wider. Die Raumverhältnisse in der Vitrine bewirkten, dass das Auge der Kamera die Vasen oft nur unscharf ins fotografische Bild prägen konnte.
»Telescoping together« nennen die Engländer die Überlagerung verschiedener medialer Schichten des Sehens. Dieses Konzept der Überblendung ist auch in Susi Juvans Malerei zu finden: Sie schliesst verschiedene Ebenen des Sehens in ihrer Malerei ein und schiebt diese in ihren Bildern in- und übereinander: den wandernden Blick, die Begeisterung für den zupackenden Augenblick, das Abrufen von erinnerten Bildern. Für ihre jüngsten grossformatigen Malereien hat sie dafür ein sinnbildliches Motiv gefunden: die Vitrine, die mit ihren Hohlräumen für Vertiefungen der Erinnerung wie auch für das Vergessen und Verbergen sorgt. Ihr Glas ermöglicht Einsichten ins Innere wie auch Spiegelungen, die den Blick wieder zurückwerfen.
Die Vasen, die Chinoiserien, sind vordergründig das augenfälligste Element in dieser grossformatigen Bildserie. Verbunden damit ist die Frage nach der Platzierung und Aufstellung der Gegenstände im Bild. Es ist für Susi Juvans malerische Recherche bezeichnend, dass sie jede Vase, jeden Teller, jede Schale einzeln ins Bild setzt, mal in Aufsicht, mal in Untersicht. Die im gemalten Raum ausgestellten Gegenstände erzeugen Reibung zum Umfeld, zum Hintergrund. Susi Juvan geht nicht von einem Gesamtraum aus, in dem die Stücke perspektivisch sinnvoll in die Flucht eines Raumes hineinkomponiert sind. Da mehrere Ausrichtungen des Blickes gleichzeitig vorhanden sind, bestehen verschiedene Fluchtpunkte nebeneinander. Ein Teller wird an eine imaginäre Wand gehängt, die nichts mit dem Umraum der Vitrine zu tun hat, eine Vase wird an den unteren Bildrand gesetzt, aber bei weitem nicht so, dass der Rand als Boden einer Vitrine gedeutet werden könnte. Viele Porzellanstücke sind zudem übermalt und verschwinden hinter einem Schleier von farbigen Taches.
Daraus ergibt sich eine Besonderheit des Bildraums. Es besteht keine eindeutige Organisation dieser einzelnen Taches und Gesten im Sinne von Perspektive, von Tiefenwirkung, im Sinne von eindeutiger Räumlichkeit von vorne und hinten. Die neben- und übereinander gelagerten Flächen weigern sich, einen illusionistischen Bildraum zu eröffnen, der beispielsweise einen Raum wie den einer Vitrine andeuten könnte. Die farbigen Flecken im Bild beharren vielmehr auf dem Tektonischen und dem Geschichteten im Sinne von oben und unten, hin und her.
Wenn man Susi Juvans Bilder unter diesen Gegebenheiten betrachtet, fällt auf, dass es in vielen ihrer Bildern wenig eindeutige Konturen gibt. Die Formen sind selten klar begrenzt, was ihre Interpretierbarkeit, ihre Lesbarkeit erschwert. Es sind zwar viele starke Gesten auszumachen, die den Duktus des Strichs, die Bewegung des Arms noch verraten. Doch die Gesten lassen sich nicht an den Rändern einer eindeutigen Form aufhalten. Diese Malerei besteht vor allem aus Flecken und Feldern, die sich Ton in Ton mit anderen Taches verbinden. Farbe lagert sich schichtweise übereinander und erzeugt so verschiedene Dichten im Bild. Sie ist oft nicht satt deckend aufgetragen, sondern lasierend, so dass die unteren Schichten mit ihren Farbwerten durchschimmern. Es finden sich selten harte Farbkontraste, sondern eine graduelle Veränderung bestimmt die farbtonalen Werte. Titel von früheren Arbeiten wie »Blinder Fleck«, »Irrlicht«, »Nocturne« verweisen darauf, dass Susi Juvan in ihrer Malerei vor allem Phänomene bearbeitet, die im Zusammenhang mit dem Sehen stehen. Susi Juvan sieht Malerei als ähnlich offenen Prozess wie das Sehen, als Durchgang zwischen dem, was der Blick festhält und dem, was der Arm in seltsamer perspektivischer Verzerrung auf die Leinwand bringt. Die Titel erzählen von der Verbindung zwischen Auge und Hand, zwischen Gesehenem und Vergessenem, zwischen Trug und Wahrheit der im Kopf gespeicherten Eindrücke von Visuellem und dem zähen Sich-Vorarbeiten von Detail zu Detail auf der Leinwand.
Dass Susi Juvans jüngste Bildserie mit »Vitrine« (2001-2003) betitelt ist, deutet darauf hin, dass sich die Malerin eindeutiger mit dem Bildraum als möglichem perspektivischem Raum auseinandersetzt als in früheren Arbeiten, z.B. in der 30- teiligen Arbeit zur Stadt Paris, wo die Vereinzelung der Blickwinkel schon im Titel »P·A·R·I·S« angelegt ist. Die Lücken, die im früheren Bildcluster entstanden sind, werden jetzt geschlossen. Eine über alle fünf Bilder durchgehende Horizontlinie im oberen Drittel der Bildfläche, organisiert wie ein Regal den Bildraum. Die durch die Linie begrenzten Farbfelder verdeutlichen vor allem eine farbliche Differenz der Bildhälften. Dass irgendwo zwischen oben und unten ein verborgener Horizont zu erahnen ist, gehört zum Bestimmenden in vielen von Susi Juvans Kompositionen. In der oberen Hälfte findet sich oft jenes Leichte und Transparente, das an Himmel und Luft erinnert. Die unteren Hälften der Bilder sind oft dichter gearbeitet, als ob die Schwerkraft auch Einfluss auf die Mehrschichtigkeit ihrer Malerei nehmen würde.
Somit scheinen Susi Juvans Bilder mehr darauf hinzuweisen, wie Bildräume als vorgestellte und erinnerte Räume in Szene gesetzt werden können. Um die Gestaltung der Differenz zwischen Sehen und Erinnern, ums Habhaftwerden zwischen dem flüchtig Festgehaltenen des Augenblicks und der Materialität durch Malerei geht es in Susi Juvans Bildern. »Es geht nicht um die Vasen«, betont Susi Juvan mehrmals im Gespräch. Vielmehr drängt sich angesichts des Bilderfrieses der Eindruck eines Ablaufens und Abschreitens von Porzellangegenständen auf. Susi Juvan platzierte diese weiss-blauen Chinoiserien zuerst in kühle weiss-blau-graue Räume, dann zunehmend in bunte und gewagte Farben wie Pink, Grün, Gelb oder Orange, so dass Erinnerungen an das dunkelgelbe Licht der Fotografien geweckt werden. Der Fries endet in Violett-Tönen, die Farbe der Melancholie, die das Auf- und Abtauchen von Gegenständen ins tiefe Geheimnis des malerischen Prozesses mitnimmt.
Die Ansichten, die Susi Juvans »Vitrine« ermöglichen, sind unbefestigte Räume, ohne Absicherung und Fundierung in der Geometrie und ihren Darstellungsmöglichkeiten im zweidimensionalen Flächigen. Es sind Räume, die allein über die Farbe entwickelt werden, über die Schichtung der Farbe und über die Art und Weise, wie die Farbflecken aneinandergefügt sind und sich von links nach rechts über die Fläche fortbewegen. »Es ist ein Malen ohne Netz«, wie Susi Juvan nach langem Schweigen im Atelier endlich sagt, ein verinnerlichter Gestus, der sich im Vorgang des Streichens und Malens, des Wischens und Deckens der Farbe von Zone zu Zone vorantreibt. Für den Betrachter drängen unerwartet Farbflächen an Stellen nach vorn, vor allem dann, wenn er sie im Sinne von Perspektive nach hinten platziert hätte. Dieser unfeste Raum ist es, der Juvans Malerei und ihren Betrachter in Bewegung hält. Er entspricht dem beweglichen Blick beim Sehen.
¹) Marcel Proust: La Recherche du Temps Perdu (RTP), Band 1, S. 10, dt. S. 57
²) Proust, RTP, Band 3, S. 692f., dt. S. 248
³) Proust, RTP, Band 3, S. 692f., dt. S. 248. Die Anregung zum Vergleich zwischen der gelb gemalten Mauerstelle und dem kostbaren chinesischen Kunstwerk stammt von Prousts Freund, dem Kunstkritiker Jean-Louis Vaudoyer, der im Frühjahr 1921 in der Zeitschrift »L’Opinion« (März 1921) die Malweise Vermeers für die Ziegelhäuser von Delft mit der Qualität von Keramik verglichen hatte: »Es liegt in Vermeers Metier eine chinesische Geduld, eine Fähigkeit, die Genauigkeit und die Arbeitstechnik zu verbergen, wie man es nur in der Malerei, den Lackarbeiten und den geschliffenen Steinen aus dem Fernen Osten findet.«

Vitrinen

Museum Guimet Paris: eine raumfüllende Vitrine mit chinesischem Porzellan.
Die Schalen und Vasen sind auf verschiedenen Ebenen angeordnet. Sie sind weiß und zeigen blaue Malereien, komplexe Landschafts- und Genredarstellungen. Geborgen hinter spiegelndem Glas.

Die Vitrine samt den Chinoiserien wurde Motiv der 5-teiligen großformatigen Bildserie »Vitrine I–V« (2001–2003). Das Bildthema verspricht Komplexität und Mehrschichtigkeit. Die Vitrine mit dem bemalten Porzellan, mit ihren Hohlräumen und Vertiefungen sorgt für verschiedene Bildebenen, für unterschiedliche Zugänge im Bereich des Zeigens und Bergens. Das Glas ermöglicht Einsichten ins Innere wie auch Spiegelungen, die den Blick wieder zurückwerfen.
Implizit ist hier auch die Frage der Malerei in der Malerei gestellt. Das Porzellan ist bereits ein kunstvoller Gegenstand, Aspekte der Materialität der Farbe und des Lichts auf sich vereinend. Das Kolorit akzentuiert die Künstlichkeit des Sujets, so daß sich die Künstlerin in ungewohnte Farbräume vorwagt. Susi Juvan platziert die weiß-blauen Chinoiserien zuerst in kühle weiß-blau-graue Farbumgebungen, dann zunehmend in bunte und gewagtere Farben wie Pink, Grün, Gelb oder Orange. Der Fries endet in Blau-Grün-Tönen, die das Auf- und wieder Abtauchen von Gegenständen ins tiefe Geheimnis des malerischen Prozesses mitnehmen. In Susi Juvans Malerei lagert sich Farbe schichtweise übereinander und erzeugt so verschiedene Dichten im Bild. Lasierend schimmern die unteren Schichten durch die oberen. So erzählt Susi Juvans Bildserie auch von der Auseinandersetzung des geschlossenen perspektivischen Raumes des Bildthemas mit dem des Unfesten der Malerei. Hinweise darauf ergeben sich dank einer durch alle fünf Bilder durchgehenden Horizontlinie im oberen Drittel der Bildfläche, die wie ein Regal den Bildraum organisiert. Die so begrenzten Farbfelder verdeutlichen vor allem eine tektonische Ausrichtung der oberen und unteren Bildhälfte. Darüber hinaus ist mit dem Motiv „Vitrine“ die Frage nach der Platzierung und Aufstellung der Gegenstände im Bild gestellt. Jede Vase, jeder Teller, jede Schale wird unter einem singulären Blickpunkt ins Bild gesetzt und in einem je eigenen Bildfries eingeschoben.
So bildet sich jener schwebende malerische Raum, der den verschiedenen Ebenen des Sehens nah ist und dem Umherschweifen des Blicks.